Heimatbrief Nr. 3 von Pfarrer Johannes Meyersieck (Oetinghausen), 15.10.1914

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Die 1907 errichtete Dorfschule Oetinghausen (darin die „Schulkapelle“), Abb. aus Rottschäfer, a.a.O., 31.

Brief Nr. 3
Oetinghausen, den 15. Oktober 1914

Liebe Kameraden!

In dem Blatt Nr. 81 findet Ihr diesmal etwas über die Himmelsbriefe [kleine (Verteil-)Blätter mit Versen, Sinnsprüchen, Lebens- und/oder Glaubensweisheiten oder volkstümlichen Reimen, die, die Gunst Gottes in beruflichen oder außergewöhnlichen Aufgaben sichern bzw. persönliches Wohlergehen garantieren sollen] zu lesen. Ich weiß, daß eine Anzahl von Euch auch mit einem solchen Briefe in der Tasche oder im Brustbeutel ins Feld gegangen sind, ich habe den Wortlaut desselben in Händen und bin dankbar, daß mir von den Gliedern der Gemeinde solches Vertrauen entgegengebracht wird, daß man mir diesen Brief gezeigt hat, den man sonst nicht gern den Pastoren zeigt. Wenn Ihr gelesen habt, was darüber geschrieben wird, dann werdet Ihr selbst nicht mehr meinen, daß dieses Stückchen Papier Euch schützen könnte.
Ich will Euch nicht schelten, daß Ihr die Torheit dieser Sache nicht gleich eingesehen habt, Ihr habt es aus Unwissenheit getan, aber war diese Unwissenheit nicht Eure Schuld, ists nicht Eure Schuld, daß Ihr Euren Gott so wenig kennt, wo doch jeder von Euch eine Bibel hat und Ihr evangelische Christen seid! Wie traurig, daß in unserm Lande der Reformation noch solche elenden Dinge unter uns umgehen. Alle die Beschwörungen haben gar keinen Wert, wohl aber halten sie den armen betörten Menschen von einer wahrhaftigen Hinkehr zu Gott ab.
Zu Beginn des Krieges ist irgendwo ein Bauer zu seinem Pastor gekommen und hat ihn um einen Himmelsbrief für einen Verwandten gebeten und dann, als der Pastor seinen Wunsch nicht erfüllen konnte, gemeint, dann wolle er seinem Neffen den 121. Psalm abschreiben und senden. Das war ein guter Gedanke. Ich kann mir dies Abschreiben wohl sparen, denn ich glaube, dieser Psalm steht in Eurem Feldgesangbuch [Psalm 121, in: Ev. Militair-Gesang- und Gebetbuch, Berlin (Reimer) 1888, S. 136/137; Feldgesangbuch für die evangelischen Mannschaften des Heeres, Berlin (Mittler) 1897, S. 59]. Aber tragt ihn nicht nur in der Tasche, sondern im Herzen. Auch dieser Psalm macht Euch nicht „kugelfest“, aber Ihr wißt: „Ein feste Burg ist unser Gott“ [Martin Luther (1483–1546), Choral (1529) „Ein feste Burg ist unser Gott“, EG 362]. Das Vertrauen auf die Himmelsbriefe ist Torheit und Sünde, aber manche der Mahnungen, die am Schlusse stehen und Euch auffordern, als fromme, ehrliche deutsche Soldaten zu leben, sind gut und nützlich.
Einige Worte solch schöner Spruchweisheit aus dem Volke, die einem anderen Himmelsbrief entnommen sind:

Obschon die Feinde Dich verfolgen und hassen So trau auf Gott. Er wird Dich auch in keiner Not verlassen.

Was Gott tut erquicken, kann niemand unterdrücken.

Gott läßt die Seinen sinken, aber nicht ertrinken.

Gott weiß wohl Hilfe und Rat, wenn Menschenhilf ein Ende hat.

Im Unglück hab ein Bärenmut, auf Gott trau, es wird werden gut, ja besser als man hoffen tut.

Zu dir Herr Jesu Gottes Sohn steht meines Herzens Freud und Wonn.

Mein Ruhm, mein Trost, mein höchstes Gut ist mein Herr Jesu, dein teures Blut.

Der Christen Herz auf Rosen geht, wenns mitten unterm Kreuze steht.

Verzage nicht im Kreuze dein, auf Regen folget Sonnenschein. Herr Jesu, der süße Name dein erquicke mir die Seele mein.

Herr Jesu Christ, mein Trost und Freud, ich trau auf dich zu jeder Zeit.

O frommer Christ hier leid und meid, bald kommt darauf die gute Zeit. Vielleicht kommt der wohl über Nacht, der aller Not ein Ende macht.

Bete rein und schätze dich klein, arbeite fein, trau Gott allein, die Sorge laß Gott befohlen sein.

[Die 12 volkstümlichen Sinnsprüche, die Meyersieck hier aufgreift, sind über die „Himmelsbriefe“ hinaus auch als Stickbilder und Poesiealbenverse verbreitet gewesen, dennoch nur teilweise näher identifizierbar, so der achte (Wahlspruch/Wappenspruch Martin Luthers) oder auch der neunte (H. J. Schmitz, Sitten und Sagen. Lieder, Sprichwörter und Räthsel des eifler Volkes nebst einen (sic) Idiotikon, Bd. 1, Trier 1856, S. 167, Nr. 10).]

Mit herzlichem Dank gegen Gott haben wir am 4. d[ieses] M[onats] das Erntedankfest gefeiert. In der Predigt habe ich gesagt, es sei fraglich, ob unser Deutsches Volk schon jemals so viel Ursache zum Danken in einem Herbst gehabt habe als in dem diesjährigen. Was wäre aus unserm Volk geworden, wenn wir in diesem Jahr eine Mißernte gehabt hätten!

In Lippinghausen hielten uns mächtige Korngarben zu den Seiten des Altars und prachtvolle Früchte, ganz besonders auch schönes Gemüse und ein mächtiger Kürbis während des Gottesdienstes den Segen Gottes vor Augen.

In Oetinghausen erinnert uns daran noch jetzt immer ein dicker Kranz von Ähren um das Kreuz auf dem Altar und zwei Ährensträuße an den Leuchtern. Was wir am Nachmittage des Erntedankfestes gemacht haben, das erzähle ich Euch, wills Gott, das nächste Mal.

[Bei der sogenannten „Oetinghauser Schulkapelle“ handelte es sich um ein Provisorium, das die Gemeindeglieder im Oetinghauser Gemeindebezirk des alten Kirchspiels Hiddenhausen in der 1907 neu errichteten Dorfschule eingerichtet hatten. Diese Dorfschule bestand aus zwei Klassenräumen, die jeweils nach rechts bzw. links von einem breiten Flurraum abzweigten. An der Stirnseite dieses Mittelgangs stand der (wochentags durch Tücher verhängte) Altar. Während der (i.d.R. gut besuchten) Gottesdienste ließ sich der „Gottesdienstraum“ zu den Klassenzimmern hin erweitern. Der „Betsaal“ der zweiklassigen Volksschule diente dem Gemeindebezirk drei Jahrzehnte lang, bis zum Bau der Oetinghauser Kirche 1937/1938, als dörfliche Gottesdienststätte und, wie Pfarrer Meyersieck gern in seinen Briefen betont, als „Heimatkirche“ (s. Abb. oben).]

Gott befohlen, Euer Heimatpastor Meyersieck.

Quelle: Feldpostbriefe von Pastor Johannes Meyersieck aus Oetinghausen.

Lit.: Ulrich Rottschäfer (Hg.): „Wir denken an Euch“. Feldpostbriefe eines ravensbergischen „Heimatpastors“ im Ersten Weltkrieg, Bielefeld 2011.

Signatur: LkA EKvW 4.53 (Archiv der Ev. Kg. Hiddenhausen), Nr. 958

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