Kriegschronik des Otto Zähler, Bielefeld, 1914-1916

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In 41 bebilderten Kapiteln schilderte Otto Zähler aus Gadderbaum in seiner „Illustrierten Kriegschronik eines Daheimgebliebenen“ vor allem die Ereignisse von Juli bis September 1914 in Bielefeld. Diese ist umso wertvoller, da eine städtische Chronik nicht angelegt wurde.

(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)

Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Sammlung Militärgeschichte, Nr. 299

Lit.: Jochen Rath, Der Kriegssommer 1914 in Bielefeld – Otto Zählers „Illustrierte Kriegschronik eines Daheimgebliebenen“, in: Ravensberger Blätter 2011, Heft 1, S. 1-17

Link: Historische Einordnung: Otto Zählers „Illustrierte Kriegschronik eines Daheimgebliebenen“, Dr. Jochen Rath (Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)

Foto „Kriegszug Warburg – Altenbeken – Paris“, 20.8.1914

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„Kriegszug Warburg – Altenbeken – Paris“, 20.8.1914 (Foto: Kreisarchiv Paderborn/ Heinrich Müller)

Im Sommer 1914 erwarteten die meisten Deutschen, dass der Krieg innerhalb weniger Wochen siegreich beendet sein würde. Als sich das Eisenbahn-Personal am 20. August 1914 vor dem „Kriegszug Warburg – Altenbeken – Paris“ fotografieren ließ, waren die deutschen Aufmarschpläne aber bereits ins Stocken geraten.

(Wilhelm Grabe, Kreisarchiv Paderborn)

Abiturprüfung im Fach Deutsch, 1914

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Die wiederholt unterstellte Kriegsbegeisterung gerade der Absolventen des Notabiturs 1914 ist mindestens fraglich, ja eher patriotische Propaganda und Waffen-klirrendes Konstrukt („Langemarck-Mythos”!). Die Reifeprüfungsklausuren atmen keine Blutrünstigkeit, sondern offenbaren Patriotismus und vor allem einen klaren Blick für die militärischen Kräfteverhältnisse und drohenden Folgen. Im August 1914 legten zehn Ratsgymnasiasten in Bielefeld das Notabitur ab. Die Aufgabe für die Deutschklausur lautete schlicht: „Die Gegenwart – eine ernste, aber schöne Zeit für Deutschland“.

Der Prüfling Werner Bentrup erkannte drei Voraussetzungen für den Krieg: „erstens Geld, zweitens Geld und drittens wiederum Geld“. Weitsichtig beschrieb Heinrich Thöne mögliche Konsequenzen, die aus den jüngsten Kriegserklärungen resultierten: „Hierdurch ist für uns die Lage sehr ernst geworden. Englands Flotte ist der unsrigen überlegen, wiewohl Deutsche Seeoffiziere im Ringen mit England siegreich zu bestehen glauben. Verbindet sich gar Englands Flotte mit der französischen – woran sich doch kaum zweifeln läßt – so ist die Aussicht auf Sieg sehr gering. Und sollten wir besiegt werden, so wird zweifellos Rußland, dieser slawische Staat, eine Großmachtstellung in Europa einnehmen. Deutschlands Größe wäre dahin, Elsaß-Lothringen gingen verloren, verloren die Deutschen Ostseeprovinzen, sein Handel läge danieder, ungeheure Kriegskosten müßten wir aufbringen.“

Lehrer Hermann Tümpel kommentierte die Siegesskepsis mit einem großen Fragezeichen, ergänzte aber „Die sicher bevorstehenden Verluste fehlen“, womit er die Kriegstoten meinte.

Als erster der Notabiturienten fiel Fritz Mangelsdorf am 7. Dezember 1914 in der Schlacht bei Limanowa-Lapanow in den Karpaten (heute Südpolen) als Angehöriger des Reserve-Infanterie-Regiments 218.

(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)

Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1069

Lit.: Altenberend, Johannes, „Mars regierte die Stunde” – Der Kriegsausbruch 1914 im Bielefelder Gymnasium zwischen Euphorie, Skepsis und Ernüchterung, in: Ravensberger Blätter 2014, Heft 1, S. 9–21

Patriotisches Konzert am Neuen Rathaus, Schillerplatz, 9. August 1914

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Die Friedensdemonstrationen vom Juli 1914 wurden bald durch ein komplexes „Augusterlebnis“ abgelöst, das verschiedenste Varianten einer nahezu uneingeschränkten Bereitwilligkeit prägten. Deshalb dürfte der Terminus „Entschlossenheit“ die Situation zutreffender beschreiben als Euphorie, und wenn, dann war es eher eine allgemeine nationale und keine kriegerische. Echte Massen-Kriegsdemonstrationen mit chauvinistischem Charakter blieben auf wenige Großstädte beschränkt.

Bielefelder Ansätze hierfür liefert allenfalls eine Veranstaltung vor dem Rathaus am Niederwall, als der „Posaunengeneral“ Johannes Kuhlo (1856-1941) am 9. August 1914 ein Platzkonzert gab, u. a. ein Ständchen für den englischen König intonierte („Verlassen, verlassen bin ich“) und eine Rede vor angeblich Tausenden Menschen hielt (das Foto vermittelt einen anderen Eindruck) hielt, „alle mit gleichen Empfindungen, gleichen Wünschen und gleichen Absichten. Jedenfalls eins der schönsten Bilder, die uns während der Mobilmachung zu Gesicht kamen“, wie Otto Zähler schreibt (Foto: Otto Zähler).

(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)

Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Sammlung Militärgeschichte, Nr. 299

Lit.: Jochen Rath, Der Kriegssommer 1914 in Bielefeld – Otto Zählers „Illustrierte Kriegschronik eines Daheimgebliebenen“, in: Ravensberger Blätter 2011, Heft 1, S. 1-17

Tagebuch Hermann Bornemann, 8.8.1914

Detmold, den 8. August 1914
4¼ bis 5¼ Stalldienst. 6 Uhr antreten auf dem Kuhkamp. Waffen und Munition werden empfangen, Zeltbahnen und Zubehör ausgegeben, Gespanne noch einmal neu eingeteilt. Ich bekomme mein Reitpferd, großer brauner Oldenburger, 178 [cm] Schulterhöhe, schönes, sechsjähriges Tier. Hatte erst einen Wallach, mußte mit Wachm[ei]st[e]r Erpenbeck tauschen. 7 Uhr abends antreten, Kriegsartikel verlesen. Die Straßen sind mächtig belebt; besonders die jungen Kriegsfreiwilligen hört man allerorts mit Gesang marschieren. Diese Nacht sollen wir von [Seite 5] hier abrücken. Ich bin auch als Fahrer eingeteilt und bringe mein Gespann zu Johannettental. Alle Sachen sind gepackt, Posten aufgezogen. Hole meine Sachen aus dem Quartier und um 11 Uhr ist alles wieder auf dem Parkplatz am Anspannen. Ich reite nun doch mein Pferd. Es ist eine schöne Sommernacht.

Quelle: Tagebuch von Hermann Bornemann (Herford). Privatbesitz. Leihgabe an das Gemeindearchiv Herzebrock-Clarholz.

Evangelische Kirche und Erster Weltkrieg

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Verbreitete Propaganda-Postkarte. Der zitierte Satz „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war!“ beschließt den Aufruf Kaiser Wilhelms II. an das deutsche Volk vom 6. August 1914.

Der Erste Weltkrieg wurde 1914 nicht begonnen, weil national euphorisierte, sich im Deutschen Reich als von anderen Hegemonialmächten eingekreist empfindende und daher seit längerem Aufmarschpläne schmiedende Volksmassen aus dieser Not und Notwendigkeit heraus zu den Waffen griffen und in die Nachbarländer einfielen. Der Krieg hatte vielschichtige Ursachen und Auslöser auf allen Seiten der Beteiligten. Er wurde nicht zuletzt begonnen, weil die deutsche „Reichsleitung“, also der Reichskanzler an der Spitze einer Beamtenregierung, und die Politik des Deutschen Reiches und seines Verbündeten Österreich-Ungarn diese militärische Eskalation bewusst in Kauf nahmen und auch herbeiführten. Die vermeintliche Kriegsbegeisterung, das sogenannte „Augusterlebnis“ und der viel beschworene „Geist von 1914“ waren Produkt und Intention von Propaganda und Mobilisierung. Politik, Militär, Wirtschaft und Kirche verfolgten damit eigene Interessen und machten Millionen von Menschen zu ihren Werkzeugen und Kriegern.

„Wohl keine gesellschaftliche Gruppe hat die Kriegsanstrengungen des deutschen Reiches von August 1914 bis zum bitteren Ende im November 1918 mit größerer Entschiedenheit unterstützt als die protestantischen Landeskirchen.“ Theologen deuteten den Krieg als eine Prüfung Gottes und als Teil des göttlichen Weltplans, der Deutschlands Aufstieg zu einer Weltmacht bringen werde. Leiden, Sterben und Trauer wurden von den Kirchen in der Anfangszeit des Krieges, der als „gerechter Krieg“ bezeichnet wurde, als heilsgeschichtlich gebotene christlich-germanisch-vaterländische Opferbereitschaft interpretiert. Das war in sämtlichen kriegführenden Staaten dabei durchaus vergleichbar, die sich als Verteidiger des jeweiligen Vaterlandes, der Kultur und des Christentums verstanden. Die Kirche erfüllte – jenseits ihrer eigenen volkskirchlichen Wiedergeburtshoffnungen – staatliche Integrations-, Legitimations-, Trostspende- und Motivationsfunktionen: „Uns Pfarrern zumal fällt in dieser außerordentlichen Zeit die bedeutsame Aufgabe zu, den Geist restloser Pflichterfüllung und unwandelbarer Treue bis in den Tod zu pflegen und zu stärken.“

Die evangelische Kirche und ihre traditionell nationalkonservativ eingestellten Kirchenbehörden agierten unter ihrem obersten Bischof Kaiser Wilhelm II. weitgehend als aktive Mitstreiter bei der totalen Mobilisierung und Ressourcenausschöpfung der deutschen Bevölkerung für die Fortführung des Krieges. Die westfälische Provinzialkirche war bis 1945 Teil der preußischen Landeskirche und teilte entsprechend ihre Geschichte.

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Postkartenserie „Gebet während der Schlacht“ (LkA EKvW 3.46 Nr. 80)

Westfalen war im Ersten Weltkrieg zu keiner Zeit militärisches Kampfgebiet. Schützengräben gab es in Westfalen lediglich als „Schauschützengräben“, die den Kriegsalltag jedoch nur unzureichend wiedergeben konnten. Das Grauen und die Realität der Front erreichte Westfalen an der „Heimatfront“ – in Gestalt von Siegesmeldungen und Verlustlisten in den Zeitungen, in Berichten über Offensiven und Ordensverleihungen, als Feldpost für die Familie und die Gemeinde, in Form von Geld- und Sachspendeaktionen sowie von Aufrufen zu Kriegsanleihen, in wöchentlichen Kriegsbetstunden und in Segnungsgottesdiensten für die einberufenen Soldaten, in Gestalt von Verwundeten, Invaliden und Kriegsgefangenen, die wie Lazarette und Lager im öffentlichen Raum zunehmend auftauchten und ihn mit prägten.

Kirchen, Gemeinden und Gemeindepfarrer wirkten in vielfältiger Weise an der Heimatfront, und sie wirkten für den Zusammenhalt zwischen Front und Heimat, für moralische Unterstützung, Trost und Stärkung sowie nicht zuletzt für den Erhalt der Wehrkraft auf beiden Seiten.

Aufgrund ihrer volkskirchlichen Struktur und ihrer nationalstaatlichen Verankerung ist evangelische Kirche zumindest bis zum Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs gesamtgesellschaftlich präsent und auch gefordert. Die kirchlichen Archive spiegeln diese Rolle der Kirche in vielfältigen Quellenbeständen, die in ihrer Breite lediglich durch nachfolgende Kriegsbeschädigungen Verlust erlitten haben.

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Karte „Mit Gott für Kaiser und Reich!“, 1914 (LkA EKvW 4.43 Nr. 699)

(Dr. Jens Murken, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen)

„Ein furchtbar Schrecknis ist der Krieg“ – Das Herforder Augusterlebnis 1914

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Herforder Kreisblatt, 31.07.1914, Setzung in den Zustand der drohenden Kriegsgefahr (Kommunalarchiv Herford, Zeitungssammlung)

Vor 100 Jahren, im August 1914 zogen die Deutschen begeistert in den Ersten Weltkrieg. Später sprach man vom „Augusterlebnis“, einem rauschhaften, alle Bevölkerungskreise ergreifenden nationalen Erweckungserlebnis. Dieses Bild wurde lange in Schule und Geschichtsbuch vermittelt. Neuere Untersuchungen sprechen eine andere Sprache. Die Reaktionen auf Kriegserklärung und Mobilmachung unterlagen starken Schwankungen: Erwartung und Ernüchterung, Hochstimmung oder Zukunftsangst, Euphorie und Panik lagen dicht beieinander.

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Herforder vor dem Verlagsgebäude des Herforder Kreisblatts in der Mönchstraße in Herford bei der Ausgabe der Mobilmachungsbekanntgabe (Kommunalarchiv Herford, Fotosammlung Städt. Museum)

Dieser Wechsel von Trara und Tristesse lässt sich vor allem bei einem Blick in die Lokalzeitungen erkennen. Da die Presse staatlicher Zensur unterlag, muss zwischen den Zeilen gelesen werden. So erinnerte am 31. Juli 1914 eine Herforder Zeitung selbst an ihre Pflicht, positive Stimmung zu machen: „Es gab einen deutlichen Vorgeschmack von der Stimmung, die beim eventuellen Ausbruch eines Kriegs herrschen würde. Wir haben nicht nur bis zum Höchstmaß erregte Männer und Jugendliche erblickt, wir haben auch Frauen und Mädchen erblickt, denen die blasse Furcht anzusehen war, wir haben solche, die ob begründet oder nicht, weinten und sich nicht beruhigen lassen wollten, weil sie glaubten, es müsse doch schief gehen. Deutlichere Hinweise, manche Zeitungen an ihre erste Pflicht zu erinnern, bedarf es wohl nicht.“

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Herforder Zeitung für Stadt und Land, 1.8.1914, Mobilmachung (Kommunalarchiv Herford, Zeitungssammlung)

Die Redakteure waren so zugleich Propagandisten, sie beruhigten die Leser am 31. Juli 1914: „Die Setzung in den Kriegszustand ist an sich noch keine Mobilmachung“, gaben als glaubwürdige Chronisten aber auch die wahre Stimmung wieder: „Wohl hielt gestern in Herford einen Begeisterung der Einwohner an, wohl hörte man überall stolze, selbstbewußte echte deutsche Worte, aber hinein klang doch etwas, das an den großen Ernst der Stunde mahnte und eine bangende, aber fürchterliche Bestätigung der Schillerschen Worte bot. ‚Ein furchtbar Schrecknis ist der Krieg.’ Die Wirkung der Bekanntmachung war überraschend. Waren die Straßen vorher noch verhältnismäßig leer gewesen, so strömten jetzt die Massen dicht dahin. In der allgemeinen Stimmung vollzog sich kein Wandel, aber edle Begeisterung machte dem Zweifel Platz. Wer die Stadt durchwanderte, sah keine lärmenden, aber ruhig-fröhliche Menschen…“.

Auch nach den Extrablättern über die Mobilmachung am 1. August zeigte die Presse die zwei Seiten des Augusterlebnisses. Begeisterung: „Da, zehn Minuten vor 7 Uhr zerreißt ein Schrei die Luft, in dem die aufgespeicherte Stimmung sich erklärt – Die Meldung der Mobilmachung ist da! – Wie ein Aufatmen geht es durch die Menschenmengen …“ und Ernüchterung: „In den Kirchen standen die Andächtigen dicht gedrängt. … Den Frauen, Müttern, Jünglingen, Mädchen hielt Pastor Wilmans eine ergreifende Predigt. In der Kirche hörte man Schluchzen und Weinen. Eindringlich und packend wusste der Prediger die Geister zu erheben…“

Die echten Sorgen zeigten sich eher in den kleinen Meldungen. Die „zurückbleibenden“ Angehörigen der Soldaten „haben da dieselben Tugenden zu bewähren, wie der Krieger: Ruhe, Selbstzucht und Opferbereitschaft.“ Gegeißelt wurden Hamsterkäufe: „Wenn, wie es in den letzten Tagen vielfach geschah, alles panikartig die Lebensmittelläden stürmt und größere Vorräte einzukaufen sucht. Zu solcher Panik liegt kein Anlaß vor.“ Auch dass „bei den Sparkassen ein verstärkter Andrang und eine umfangreiche Abhebung von Spareinlagen zu erkennen“ ist, wurde kritisiert: „Es gibt unter den Sparern solche, die nicht wissen, dass gerade in Kriegszeiten das Geld nirgends sicherer angelegt ist.“ Die Meldung „Letztwillige Verfügungen sind in den letzten Tagen von einberufenen Mannschaften zahlreich getroffen worden…“, zeigte die Zukunftsangst ebenso wie das Angebot der Münsterkirche zu einem „Abendmahl für ausziehende Krieger“.

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Ausflug nach Paris, das Bild des Augusterlebnisses in den Medien (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Franz Tellgmann)

Am Bahnhof – dem Ort des Abschiednehmens – eskalierte die Situation: „Kopf an Kopf stand die Menge. Als aber kurz vor zehn Uhr der Posten an der Sperre plötzlich scharfe Schüsse abgab, brach ein unbeschreiblicher Tumult los. Man hörte verzweifelte Rufe von Frauen und Mädchen, von denen manche Ohnmachtsanfälle bekamen. Andere krochen eiligst in die am Rorigschen Hause liegenden großen Kanalisationsrohre, wieder andere, wohl die meisten liefen in die Stadt zurück. Und die Ursache? Der Posten hatte auf einen gesichteten Flieger geschossen. Die ungeheure Aufregung der Menge legt sich erst allmählich, fand aber durch allerlei unmittelbar hinterher auftauchendes unsinnige Gerüchte immer neuen Nährboden.“

Der Autor der „Herforder Kriegsskizzen“ am 5. August 1914 ist wieder ein gefühlvoller Chronist, als er über ein Mädchen, das um einen verlorenen Ring weint, berichtet: „Ja den Ring hat sie von ihrem Vater, der mußte weg in den Krieg heute morgen! Mir ging etwas – war es Schreck oder Mitleid – jäh durch die Seele. Ich sah die ganze Nacht im Träume ein blondlockiges Kind vor mir, das mit brennenden Augen den Ring seines fern im Heere weilenden Vaters suchte.“

Auf der anderen Seite wurden auch in Herford die bekannten Bilder der fröhlich in den Krieg ziehenden Soldaten wurden gepflegt „Solche lustige Reisegesellschaft lässt keine trübe Anwandlung aufkommen. Und die Zurückbleibenden werden angesteckt von diesem tollen und tollsten Humor, der in tiefer, edler Liebe zu Kaiser und Reich wurzelt. Wir erleben eine vaterländische Begeisterung ohnegleichen.“

(Christoph Laue, Stadtarchiv Herford)

Feldpost Rudolf Kisker, 3.8.1914

Liebe Eltern!

Habe nach schwierigem Laufen und Suchen meine 7 Stabs-Bag[age].Wagen mit Pferden glücklich zum Bahnhof gebracht und verladen. Das wird noch manchmal Bruch geben bei den störrischen neuen uneingefahrenen Pferden. Aber mit Geduld u. Spucke wird es schon gehen. Es geht mir sehr gut. Eben zieht die 4. Esk[adron] mit Mus[ik] unter begeisterten Kundgebungen zum Verladen auf den Bahnhof. 17 Stunden Fahrt wahrscheinlich Elsenborn [Dorf im heutigen Belgien, damals Preußen (Truppenübungsplatz)]. Sammlung der 9. Kav. Div. [Kavallerie-Division]. Beziehe morgen als Offizier-Diensttuender 505 M. Löhnung für 1 Monat.
Herzl. Grüsse und Küsse auch n. den Geschwistern
Euer Rudolf

Adresse: V. W. d. Res. K. 4. Kürs.Reg. Reg.Stab 9. Kav. Div. Kriegsschauplatz Sendungen frei. Aufschrift Feldpostbrief

Signatur: Privatarchiv Familie Kisker, Nr. 189: Feldpostkarte von Rudolf Kisker mit Poststempel Münster in Westfalen, 3.8.1914 [Transkription]

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Hartmann (Rödinghausen), 3.8.1914

Überhaupt war die Stimmung bei den Reservisten wie bei der ganzen Bevölkerung ernst gehalten, eine Begeisterung aber eine herbe entschlossene nicht wie [18]70 eine helle Begeisterung.

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Ernst Hartmann, Kirchengemeinde Rödinghausen, S.4/03.08.1914

Signatur: LkA EKvW Best. 4.31 Abt. B HS 2 (Quelle); LkA EKvW W 15193 (Transkription)

Menschenmenge auf dem Alten Markt, Bielefeld, Ende Juli 1914

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Im Juli/August 1914 fand das öffentliche Leben Bielefelds auf den Straßen und Plätzen statt, wo Eilmeldungen diskutiert wurden. Am Alten Markt belagerten die Menschen die Redaktion des General-Anzeigers, um sich auf den neuesten Stand zu bringen.

(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)

Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Sammlung Militärgeschichte, Nr. 299; Fotos: Otto Zähler

Über Jahrzehnte hinweg und gelegentlich noch bis in die jüngste Zeit hinein haben Medien und – auch lokalgeschichtliche – Veröffentlichungen die Existenz einer verbreiteten Kriegsbegeisterung in Deutschland einschließlich Bielefelds 1914 behauptet. Gestützt auf Zeitzeugenerinnerungen, Tagebücher und jüngst auch Abiturprüfungsunterlagen etc., wird dieses inzwischen differenzierter gesehen. Auch wenn der letzte größere kriegerische Konflikt (1870/71) seinerzeit mehr als 40 Jahre zurücklag, musste doch – u. a. wegen der Erfahrungen aus den Kolonialkriegen – jeder wissen, was ein Krieg angesichts des Potentials der Konfliktparteien bedeuten musste: Tod und Trauer, Verwundung und Verstümmelung wohl in jeder Familie und Nachbarschaft. Insofern war es kaum eine echte Kriegseuphorie, sondern eher eine nationale Entschlossenheit und patriotische Begeisterung in der Hoffnung auf einen schnellen Feldzug und in der Überzeugung, einen unausweichlich, aber auf jeden Fall gerecht erscheinenden Krieg zu führen.

Otto Zähler beschreibt die Situation im Sommer 1914, als nach dem Attentat von Sarajewo permanent einlaufende Nachrichten über Ultimaten und Vermittlungsversuche der europäischen Diplomatie die Bielefelder Bevölkerung verwirrten und erregten, nachdem sie das Schützenfest (25. bis 27. Juli 1914) schon mit „gemischten Gefühlen“ gefeiert hatte. Das öffentliche Leben verlegte sich „von der Wohnung auf die Straße und zwar dort, wo man möglichst schnell und gut über alle Vorgänge unterrichtet wurde“. Menschenmengen umlagerten Telegrafenämter und Zeitungsredaktionen, um Eilnachrichten und Extrablätter zu ergattern. Der Bielefelder General-Anzeiger bestätigte um die Monatswende Juli/August die verhaltene Reaktion in der Bevölkerung. Am 1. August 1914 berichtet die Zeitung nach der Verkündung des Kriegszustands: „Von lauter, geräuschvoller Begeisterung war nicht viel zu merken. Jeder einzelne war sich des Ernstes der Stunde bewusst. […] Fast wie eine Erlösung hatte die Botschaft gewirkt, eine Erlösung aus quälenden Zweifeln und drückender Ungewissheit. Der Alpdruck war wenigstens gewichen, wenn auch nicht alle Zweifel beseitigt. […] Große Stunden sind es, die wir jetzt miterleben, Stunden voll fürchterlichen Ernstes, aber voll erhabener Weihe, in denen die deutsche Kraft […] sich wieder einmal sammelt, selbstbewußt und leidenschaftslos, einmütig in dem Gedanken, zum Segen des Vaterlandes alles zu opfern, komme, was kommen mag.“ Und für den Mobilmachungstag hält der General-Anzeiger am 2. August 1914 fest: „Eine furchtbare Schwüle lastete am Sonntagabend über der Stadt. Dumpf und bleiern. Es lag etwas in der Luft. Ein gedrücktes Gefühl hatte einen jeden beschlichen. […] Keine Nachricht. Drückendes Schweigen. Die Ruhe vor dem Sturm … Mit einem Mal war es da, das Unabänderliche. Der Augenblick, in dem das Rad der Zeit still zu stehen schien. Es kam wie eine Erlösung, wie eine Befreiung von quälenden Zweifeln. […] Aber die Begeisterung ist nicht laut und geräuschvoll. Sie ist innerlicher, leuchtet aus den Blicken der Einzelnen entgegen. Darin liegt Kraft und Mut.“

Lit.: Jochen Rath, Der Kriegssommer 1914 in Bielefeld – Otto Zählers „Illustrierte Kriegschronik eines Daheimgebliebenen“, in: Ravensberger Blätter 2011, Heft 1, S. 1-17

„Im Zeichen der Kriegsbegeisterung“ – Lippische Landeszeitung am 27. Juli 1914

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Lippische Landeszeitung 27. Juli 1914 (LAV NRW OWL)

Lippisches
Detmold, 27. Juli
In schreiendem Gegensatz zum vorletzten Sonntag stand der gestrige Tag. Konnten wir vorigesmal von hellem Sonnenschein und harmlos fröhlichen Menschen berichten, die sich der Festfreude auf dem Bruchmarkte hingaben, so stand der gestrige Sonntag  i m  Z e i c h e n  d e r  K r i e g s b e g e i s t e r u n g. Die Gastwirtschaften und Erholungslokale waren von Menschen überfüllt, und eine außerordentliche Begeisterung für die hochwichtigen Tagesereignisse machte sich allenthalben bemerkbar. Dafür waren die Promenaden desto einsamer, denn es wehte ein unfreundlicher Wind, und eine Regenwolke jagte die andere. So laut aber auch die Kriegsbegeisterung sich äußerte, so ist sicherlich in manchem Herzen ernste Sorge eingekehrt, denn, sollte das Ungeheure wirklich geschehen und ein allgemeiner Völker- und Rassenkrieg ausbrechen, so wird es ohne Frage Ströme von Blut kosten und viele Millionen an Nationalvermögen werden vernichtet werden. Ist ein Krieg immer und unter allen Umständen ein Unglück, so würde es ein solches bei den furchtbaren Waffen der Neuzeit doppelt und dreifach sein. Wer aber wollte nicht mit der Möglichkeit, ja mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, dass auch Deutschland an dem blutigen Ringen sich wird beteiligen müssen?! Da seufzt so mancher junge Geschäftsmann: Mein blühendes Geschäft muß ich in fremden Händen zurücklassen, und wenn die, denen ich es anvertraue, treulos oder nachlässig sind, wer ersetzt mir und den Meinen den Verlust? Und so hat jeder sein Leid zu klagen, der eine dies, der andere das. Vielleicht möchte einer sagen: Wenn diesmal Deutschland in den Krieg ziehen muß, so wird es wohl nicht mit jener flammenden Begeisterung geschehen, mit der die Siege von Weißenburg, Wörth, Spichern und Sedan errungen wurden ….
Und doch! Machen wir uns die Lage klar! Es würde doch kaum anders sein wie in der großen Zeit von 1870/71. Einstweilen wird der Krieg zwischen Oesterreich und Serbien geführt, und das Recht, diesen Krieg zu führen, wird ein patriotisch fühlender Deutscher dem österreichischen Bundesbruder nicht abstreiten wollen. Sollte sich Russland wirklich einmischen, so ist es – vergessen wir das nicht! – auf eine Demütigung des Dreibundes abgesehen. Sollte gar Frankreich sich einmischen, so will es nichts anders, als unser aufblühendes und erstarkendes Vaterland zu Boden drücken. Und gegen solche Gefühle werden wir Deutschen alle wie ein Mann stehen. Mit Donnerhall wird die Kriegsbegeisterung wieder auflodern, wie in der großen Zeit des deutsch-französischen Krieges, und der furor teutonicus wird mit alter Kraft, aber mit neuen Waffen hervorbrechen und die heiligsten Güter der Welt mit Blut und Eisen zu verteidigen wissen.

Historische Einordnung

Wenige Tage vor Kriegsbeginn lassen sich für beides, für nationale Kriegsbegeisterung, aber auch für eine verbreitete Verunsicherung, Niedergeschlagenheit und Zukunftssorge Belege in der regionalen Presse finden. Als die Lippische Landeszeitung über den letzten Sonntag im Juli 1914 berichtete, wird die Ambivalenz der Stimmungen nicht verschwiegen. Der Sonntag, 26. Juli, habe in Detmold „im Zeichen der Kriegsbegeisterung“ gestanden. Die Gastwirtschaften und Ausflugslokale seien von Menschen überfüllt gewesen, und „eine außerordentliche Begeisterung für die hochwichtigen Tagesereignisse machte sich allenthalben bemerkbar“. Doch dann ließ der Verfasser des Artikels bemerkenswert nachdenkliche Äußerungen folgen: „So laut aber auch die Kriegsbegeisterung sich äußerte, so ist sicherlich in manchem Herzen ernste Sorge eingekehrt, denn, sollte das Ungeheure wirklich geschehen und ein allgemeiner Völker- und Rassenkrieg ausbrechen, so wird er ohne Frage Ströme von Blut kosten und viele Millionen an Nationalvermögen werden vernichtet werden.“ Während vor allem die jungen Männer eine abenteuerliche „Kriegsfahrt“ erwarteten, die spätestens zum Jahresende siegreich beendet werden sollte, war die in der Lippischen Landeszeitung skizzierte Perspektive eine andere. So heißt es dort weiter: „Ist ein Krieg immer und unter allen Umständen ein Unglück, so würde es ein solches bei den furchtbaren Waffen der Neuzeit doppelt und dreifach sein.“ Der Verfasser stellte fest, dass die Deutschen „wohl nicht mit jener flammenden Begeisterung“ wie 1870/71 in den Krieg ziehen würden, es sei denn, Frankreich würde intervenieren. In diesem Fall ließ sich der Verfasser des Artikels einen gedanklichen Ausweg, der bekanntlich bald begangen wurde. Alles in allem machte man sich auch in der Provinz keine Illusionen über die Realität des Krieges. Dass ein industrialisierter Massenkrieg andere Dimensionen als die Einigungskriege haben würde, war nicht nur den Publizisten klar.

(Dr. Bärbel Sunderbrink, Stadtarchiv Detmold)

Signatur: Lippische Landeszeitung 27. Juli 1914 (LAV NRW OWL)