Das Tagebuch der Hedwig Stegemann aus Herford im Ersten Weltkrieg

Stegemann Tagebuch Einband

Das Tagebuch der Hedwig Stegemann aus Herford im Ersten Weltkrieg

1. Januar 1914 bis 10. Mai 1918 – Das Tagebuch einer jungen Frau im Ersten Weltkrieg

Am 1. Januar 1914 beginnt Hedwig Marie Luise Stegemann, geboren am 13. Mai 1895 in Herford, mit ihren Eintragungen in ihr neues – zu Weihnachten 1913 bekommenes – Tagebuch, noch nicht ahnend, das das Jahr 1914 zu einem Schicksalsjahr werden wird. In loser Folge beschreibt sie bis zum 10. Mai 1918 ihren Alltag in Herford und liefert damit ein eindrucksvolles Zeugnis einer Jugendzeit in Zeiten des Ersten Weltkriegs. Eine letzte, unvollendete Eintragung stammt von 1923.

Stegemann-Taufe_1895_HF-Muenster

Taufeintrag von Hedwig Stegemann im Kirchenbuch der Evangelisch-Lutherischen Münster-Kirchengemeinde Herford, 30.6.1895 (LkA EKvW EKvW_1406_T_1895-1898.pdf)

Hedwig Marie Luise Stegemann war Tochter des Eisenbahn-Telegraphisten Hermann Stegemann und dessen Frau Dorothee geb. Nuttelmann. Die Familie wohnte in der Herforder Radewiger Feldmark, Nr. 440, später Engerstr. 17, einem Mischgebiet aus Wohnen und Arbeiten. Viele Fabriken hatten sich um die Jahrhundertwende in diesem östlich der Bahnstrecke liegenden Stadtteil Herfords angesiedelt. Für die innerstädtischen Einwohner gehörte der Bereich „achter der Bahn“ nicht richtig dazu.

Mit ihrer Schwester Margarete, geboren 1902, wuchs Hedwig hier auf. Im elterlichen Haus wohnten 1914 auch noch die Handlungsgehilfen Wilhelm Meyer und Fritz Dieterle, der Architekt Erich Bauer, der Verwaltungsassistent Arthur Beißert und Ehefrau Franziska Beißert. Auch diese Mitbewohner erscheinen im Tagebuch, darüber hinaus zahlreiche Herforderinnen und Herforder aus der engeren und weiteren Nachbarschaft und viele im Raum Herford stationierte Soldaten.

Ihrem damaligen Alter entsprechend prägte noch die Familie, mehr aber noch das Zusammensein mit Altergenossinnen und -genossen sowie die die Suche nach Freundschaft und Beziehung(en) ihr Leben. Ausführlich schildert sie Besuche, Ausflüge, Fahrten und Erlebnisse mit ihrer Familie, dem Eisenbahn- und Musikverein, den Freundinnen.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 verändert die Situation, sie erfährt nun auch Begeisterung und Ernüchterung, Tod und Verluste. Sie arbeitet in zwei Herforder Lazaretten und später beim Brotausschuss zur Versorgung der Herforder mit Lebensmitteln. Sie beobachtet die Kriegsereignisse, zeigt ihren ständigen Wunsch nach Frieden und Unversehrtheit der Freunde und Bekannten und stellt sich Fragen nach der Rolle ihres Vaterlandes. Sie ist patriotisch, Kritik übt sie nur am Rande.

Reservelazarett Belegschaft D 14  L 8 16

Belegschaft des Reservelazaretts Herford (D 14 L 8 16, Foto: Stadtarchiv Herford)

Insgesamt aber prägt der Wunsch nach einer Beziehung sehr das Tagebuch. Immer wieder sucht Hedwig den Kontakt zu „schneidigen“ Soldaten und Offizieren und stellt sich einiges vor. Dazu dienen unter anderem zahlreiche Fahrten nach Bad Salzuflen und die Herforder Ausflugsgaststätten „Waldfrieden“ und „Steinmeyer“. Erfolgreich ist sie dabei nicht.

Hedwig lebte bis Anfang 1977 ohne Beruf und kinderlos in ihrem Geburtshaus und starb am 22. Juni 1977 im Altenheim. Aus ihrem Nachlass wurde das Tagebuch zur Auswertung an das Herforder Stadtarchiv ausgeliehen. – Eine Auswahl aus ihrem Tagebuch wird in diesem Blog veröffentlicht.

(Christoph Laue, Stadtarchiv Herford)

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 521 (Transkription C. Laue)

Aus dem Tagebuch von Hedwig Stegemann, Herford, 26.8.1915

Am 26. August [1915] habe ich im Lazarett mächtig geschuftet. Das Apfelmus musste nämlich 3 Stunden gerührt werden. Schade, daß die Soldaten nicht mehr helfen dürfen, aber es darf keiner mehr in die Küche kommen.

Als wir gerade beim Kaffeetisch saßen, läuteten die Glocken: Brest Litowk war gefallen. Abends war ich noch bis ½ 11 Uhr auf dem alten Markte zur Siegesfeier. Als ich bei Beiners das Extra-Blatt las, kam der verlorene Sohn um die Ecke gefegt, natürlich von Salzuflen.

Quelle: Das Tagebuch der Hedwig Stegemann aus Herford im Ersten Weltkrieg (1.1.1914-10.5.1918)

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 521 (Transkription C. Laue)

Aus dem Tagebuch von Hedwig Stegemann, Herford, 25.8.1915

Heute war ich mit Mutter und Frau Teichs in Salzuflen. Leider war Nachmittags 50 [Pfennig] Aufschlag, weshalb wir erst um sechs Uhr in den Kurpark gingen. Ich traf gleich Anna mit L. Steinmeyer und H. Keil. Beide und der verl[orene] Sohn saßen auf der Terrasse. Als sich Mutter und Frau Teichs daneben gesetzt hatten, wurde ich plötzlich so müde, daß ich unbedingt an den Tisch gehen musste.

Erst konnte ich E. nur von der linken Seite sehen, als die beiden auf dem L. waren, setzte ich mich herum, nachher setzte sich Bubi ebenfalls anders hin, da saßen wir uns gerade gegenüber. War das schön!!! – – – –

M. lehnte sich immer ganz zurück, um auch ja unsere Unterhaltung zu hören. Abends haben wir uns über E. seinen kleinen Bruder beinahe totgelacht, der musst uns nämlich beobachten. Auf dem Bahnhof hat er gehört, wie wir uns über Bubi’s Reitgerte erzählt haben.

Quelle: Das Tagebuch der Hedwig Stegemann aus Herford im Ersten Weltkrieg (1.1.1914-10.5.1918)

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 521 (Transkription C. Laue)

Aus dem Tagebuch von Hedwig Stegemann, Herford, 5.8.1915

Herrliche Wochen liegen hinter mir. Wie im vorigen, so hatten wir auch in diesem Juli Monatskarten nach Salzuflen. Im vergangenen Jahre war es schön, aber dieses Mal noch viel schöner. Da in Salzuflen auch Militär und zwar die 67er liegen, war der Kurpark immer voller Soldaten. Feine Kerls darunter. In den ersten Wochen war ich meistens allein, am letzten Sonntag lernte ich ein Fräulein Käte Plaitrich aus Berlin kennen. Sehr nettes und feines Mädchen. So schnell, wie mit ihr, habe ich wohl noch mit niemanden Freundschaft geschlossen. Das hatte auch seine Gründe.
Wir beiden haben nämlich desselben Geschmack: Ein schöner Leutnant mit verbundenem Kopf, da ihm im Kriege das linke Auge ausgeschossen ist. Zum ersten Mal sah ich ihn, als wir mit Logmann’s an einem Sonntag in Salzuflen waren. Dann, als ich mit Anna E. und Frau Ramm da war, saß er mir gegenüber. Als wir Monatskarten hatten, war er in denn ersten Tagen nicht da, dann kam er mal ab und zu des Nachmittags. Einmal traf ich ihn abends auf dem Bahnsteig und dachte natürlich, er wäre abgereist, erfuhr dann aber, daß er jeden Abend nach Lemgo fährt. Eine Zeit lang war er immer ganz allein, auf seinem Gesichte war eine ganze Leidensgeschichte, er tat mir daher entsetzlich leid. Jetzt erschien er meistens um 6 Uhr mit dem Zuge, spazierte erst einige Mal durch den Kurpark und setzte sich dann auf seinen Platz vorn auf die Terrasse. Nach der Pause ging er dann ganz langsam herum. Käthi und ich haben ihn das erste Mal zum lachen gebracht, als er mit zwei anderen Damen da war, die aber ungefährlich scheinen. Ich hatte vorher schon mal gedacht, er könnte überhaupt nicht lachen.

Am Sonntag den 1. August [1915] war ich, trotzdem unsere Monatskarte abgelaufen war, doch in Salzuflen. Als ich mit Frau Ramm und deren Bruder die Promenade herunterging, sah ich, daß auch Meyerings mit ihrem Sohn da waren. Der Leutnant Meyering war mir schon vom vorigen Winter vom Waldfrieden her bekannt und interessant. Schneidiger Kerl, wohl der schneidigste Offizier, den ich je gesehen habe. Jetzt war er sehr schwer verwundet gewesen, anfangs sogar hoffnungslos, humpelte daher noch ziemlich stark. Dieser verlorene Sohn, wie wir ihn getauft haben, gesellte sich nun zu unserem verbundenen Leutnant, dem wir allmählich den schönen Namen Bubi gegeben haben. Als wir die Promenade herunter gingen, saßen die beiden einträchtig auf einer Bank, Meyering redete immer auf Bubi ein. Ob die sich wohl schon immer gekannt haben! Sonst ist der verlorene Sohn 50% in meiner Achtung gestiegen, dadurch, daß er den armen verbitterten E. angeredet und aufgeheitert hat.
Nun haben wir mit den beiden noch kolossal viel Spaß gehabt. Trafen wir den alten Meyering ohne Sohn, so bogen wir schleunigst aus, damit er nicht grüßte, und der Sohn, wenn er nachher bei ihm war, mit grüßen musste. Eine Dame, die bei Meyerings zu Besuch ist, haben wir kurz und Bündig die Schwiegertochter getauft, trotzdem sie ziemlich ungefährlich scheint.

Doch unsere beiden Leutnants haben noch andere Verehrerinnen gefunden: Geschwister Pape und die beiden sogenannten Gespenster. Mit der Schwester der letzteren, einem Zopfmädel hatte M. mal auf der Bank Bekanntschaft geschlossen, und da laufen eines Tages alle vier im Abstand von drei Schritten hinter den beiden mit der Kleinen her. Aber der Bubi und auch M. wollten mit denen nichts zu tun haben. Das haben sie uns besonders deutlich abends auf dem Bahnhof gezeigt. E. schien den Zug nach Lemgo verpasst zu haben, als er nun mit M. auf dem Bahnsteig erschien, wurden sie gleich von den Gespenstern und s[o] w[eiter] umringt. Nachher wollte Bubi zu Anna und mir ins Abteil steigen, aber leider war es schon besetzt.

Quelle: Das Tagebuch der Hedwig Stegemann aus Herford im Ersten Weltkrieg (1.1.1914-10.5.1918)

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 521 (Transkription C. Laue)