Einen geradezu pittoresken Eindruck vom Stellungskrieg vermittelte der Ende Juni 1915 eröffnete Schauschützengraben auf der Ochsenheide. Der Ratsgymnasiast und Zeichner Kurt Krüger (1899-1992) war Mitglied der Jugendwehr und erlebte den Grabenkrieg ab 1917 real: Flandern, Marne, Champagne … (Zeichnung 27 x 33 cm: Kurt Krüger).
Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Sammlung Militärgeschichte, Nr. 272
Im September 1914 war der deutsche Vormarsch gestoppt, die Westfront erstarrte in einem Stellungskrieg, der vier Jahre andauern sollte. Die Schrecken des Krieges vermittelten Fronturlauber, Feldpostbriefe und Todesanzeigen. Ähnliche Anlagen wie der Ende Juni 1915 eröffnete Schauschützengraben auf der Bielefelder Ochsenheide lockten die Bevölkerung in Berlin, Frankfurt und Prag seit dem Frühjahr 1915 zur kuriosen „Kriegskirmes”. Nach einem Besuch der Anlage in Prag im November 1915 schrieb Franz Kafka: „Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem Schützengraben und in ihm.“
Ausgehoben und ausgebaut hatte die Bielefelder „Feldbefestigungsanlage“ das Ersatz-Bataillon des Infanterieregiments 131, das zu Kriegsbeginn von Mörchingen im Saarland nach Bielefeld verlegt worden war. Nach der Vorstellung für die städtische Prominenz und die Presse am 26. Juni 1915 stand der Bielefelder Schauschützengraben ab dem folgenden Tag für die Bevölkerung offen. Allein am ersten Öffnungstag kamen 2.865 Menschen, bis Ende Juli 1915 zählte die Anlage 26.500 Besucher. Gegen ein Eintrittsgeld von 25 Pfennig für Erwachsene und 10 Pfennig für Kinder bekam das Publikum täglich von 15 bis 18 Uhr den Krieg zu sehen, bei „Gefechtstagen” mit militärischen Vorführungen bezahlten die Erwachsenen 50 Pfennig. Im fahnengeschmückten Eingangsbereich konnten die Besucher bequem über Kriegstechnik, Strategie und Kriegsausgang philosophieren – und das Gewissen beruhigen, schließlich war der Erlös für die Hinterbliebenen der Gefallenen des Infanterieregiments 131 bestimmt, die ihren Aufenthalt in den echten Schützengräben mit dem Leben bezahlt hatten.
Die detaillierte Skizze des Schauschützengrabens hat der 1899 in Brackwede geborene Kurt Krüger als Schüler des Realzweiges des Ratsgymnasiums angefertigt. eine detaillierte Farbzeichnung der Anlage angefertigt: Drahtverhaue, Spanische Reiter, Horchposten, Unterstände und Wolfsgruben waren ebenso zu finden wie die unvermeidbare Gulaschkanone („Feldküche”). Der eigentliche Entstehungsgrund bleibt unklar, möglicherweise entstand diese im Rahmen einer schulischen Exkursion oder einer Aufgabe innerhalb der Jugendwehr. Diese Jugendwehr bereitete seit Ende 1914 die jungen Schüler vormilitärisch auf den späteren Kriegseinsatz vor. Krüger selbst erlebte das, was er bunt illustriert hatte, nach dem Abgang von der Schule Ostern 1916 und Arbeit in einer Maschinenfabrik als grauen Kriegsalltag persönlich kennen: Als Angehöriger der Artillerie der Flieger-Abteilung (A) 256 kämpfte er an der Westfront und überlebte das Sterben in Flandern, Armentières, bei der Schlacht um den Kemmel, bei Stellungskämpfen bei Reims, der Angriffsschlacht an der Marne und in der Champagne sowie in Lothringen. Kurt Krüger kehrte aus dem Krieg zurück, viele seiner Mitschüler nicht – allein aus Bielefeld, das damals 80.000 Einwohner zählte, fielen etwa 2.300 Männer auf dem Schlachtfeld Europa wilhelminischer Großmannssucht zum Opfer.
Lit.: Joel Belmann/Tobias Fein/Jill Tönsmann/Dorian Tsolak/Pola Vollmer/Clemens Weinmann, Der gefühlte Krieg 1915. Der Musterschützengraben auf der Bielefelder Ochsenheide, in: Ravensberger Blätter 2011, Heft 1, S. 18-30
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(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)