
Die wiederholt unterstellte Kriegsbegeisterung gerade der Absolventen des Notabiturs 1914 ist mindestens fraglich, ja eher patriotische Propaganda und Waffen-klirrendes Konstrukt („Langemarck-Mythos”!). Die Reifeprüfungsklausuren atmen keine Blutrünstigkeit, sondern offenbaren Patriotismus und vor allem einen klaren Blick für die militärischen Kräfteverhältnisse und drohenden Folgen. Im August 1914 legten zehn Ratsgymnasiasten in Bielefeld das Notabitur ab. Die Aufgabe für die Deutschklausur lautete schlicht: „Die Gegenwart – eine ernste, aber schöne Zeit für Deutschland“.
Der Prüfling Werner Bentrup erkannte drei Voraussetzungen für den Krieg: „erstens Geld, zweitens Geld und drittens wiederum Geld“. Weitsichtig beschrieb Heinrich Thöne mögliche Konsequenzen, die aus den jüngsten Kriegserklärungen resultierten: „Hierdurch ist für uns die Lage sehr ernst geworden. Englands Flotte ist der unsrigen überlegen, wiewohl Deutsche Seeoffiziere im Ringen mit England siegreich zu bestehen glauben. Verbindet sich gar Englands Flotte mit der französischen – woran sich doch kaum zweifeln läßt – so ist die Aussicht auf Sieg sehr gering. Und sollten wir besiegt werden, so wird zweifellos Rußland, dieser slawische Staat, eine Großmachtstellung in Europa einnehmen. Deutschlands Größe wäre dahin, Elsaß-Lothringen gingen verloren, verloren die Deutschen Ostseeprovinzen, sein Handel läge danieder, ungeheure Kriegskosten müßten wir aufbringen.“
Lehrer Hermann Tümpel kommentierte die Siegesskepsis mit einem großen Fragezeichen, ergänzte aber „Die sicher bevorstehenden Verluste fehlen“, womit er die Kriegstoten meinte.
Als erster der Notabiturienten fiel Fritz Mangelsdorf am 7. Dezember 1914 in der Schlacht bei Limanowa-Lapanow in den Karpaten (heute Südpolen) als Angehöriger des Reserve-Infanterie-Regiments 218.
(Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld)
Signatur: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1069
Lit.: Altenberend, Johannes, „Mars regierte die Stunde” – Der Kriegsausbruch 1914 im Bielefelder Gymnasium zwischen Euphorie, Skepsis und Ernüchterung, in: Ravensberger Blätter 2014, Heft 1, S. 9–21