August Tappe im Ersten Weltkrieg. Wie Militär und Kriege eine Schwarzenmoorer Familie erschütterten

Tappe Militärpass 1

Militärpass von August Tappe

Militärpaß
des
Gefreiten d[er] R[eserve] (gestrichen: Grenadiers)
Heinrich
August Tappe
5. Garde-Regiment zu Fuß
6. Kompagnie
Jahresklasse: 1910

16.12.1918 Reservist August Tappe wurde infolge Mobil-
machung am 6.8.1914 bei nebenstehendem Truppenteil
eingestellt und gehörte der Komp[anie] bis 16.12.1918 an.
Gemäß Demobilmachungsbestimmungen am 16.12.
1918 nach Schwarzenmoor Kreis Herford entlassen.

Beförderungen: Am 27.1.1915 zum überz[ähligen] Gefreiten ernannt
Am 21.2.1915 zum et[at]mä[ßigen] Gefreiten ernannt.

Auszeichnungen: Am 31.3.1917 E[isernes] K[reuz] II. Kl[asse]

[Darunter gedruckte und handschriftliche Liste der mitgemachten Gefechte.]

Tappe Militärpass 7

Militärpass von August Tappe, Titel und Liste der Schlachten

Tappe Militärpass 7a

Militärpass von August Tappe, Titel und Liste der Schlachten

„Die Aussichten über den Ausgang des Krieges sind doch schlecht augenblicklich wohl schlechter, wie während des ganzen Krieges. Nun mag das Ende dieses Krieges doch nicht mehr allzufern sein. Wo Bulgarien nun abgefallen ist, muß die Türkei doch auch Schluß machen. Österreich macht auch gleich mit und dann ist Deutschland gezwungen, wenn es nicht alle Männer opfern will, das es auch Frieden macht.“

So hellsichtig schrieb August Tappe aus Schwarzenmoor bei Herford am 3. Oktober 1918 „aus dem Felde“. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon über vier Jahre Krieg er- und überlebt. Sein Feldpostbrief an die Familie wird am Ende noch drastischer: „Wir dachten jetzt mal ein par Tage in Ruhe zu kommen, aber da ist jetzt keine Zeit mehr zu. Die Truppen werden alle gebraucht. Überall greift der Feind an, es ist traurig das die Zeitungen in Deutschland so viel Blödsinn schreiben. Hätten sie sich beizeiten gemäßigt dann könnten wir schon längst Frieden haben. Aber das ist Schuld der Alldeutschen und des Junkertums.“

Auch ein „einfacher“ Soldat aus Herford, weit weg von der Heimat konnte also genaue Beurteilungen über Kriegspropaganda und –schuld abgeben. Die meisten Feldpostkarten und –briefe sind weit harmloser, meist berichten die Soldaten nur über erhaltene Pakete, Truppenverlegungen und Lazarettaufenthalte, die wahren Kriegserlebnisse bleiben außen vor. Standard sind Formulierungen wie „Mir geht es noch gut.“

August Tappe, geboren 1890 in Schwarzenmoor und dort auch 1974 verstorben, war in dritter Generation Schuhmacher und betrieb nebenbei etwas Landwirtschaft auf seinem kleinen Hof in der Nähe der Vlothoer Straße.

Er war ein stattlicher Mann, 173 Zentimeter groß, und kam daher nach seiner Musterung auf Stiftberg zum 5. Garderegiment zu Fuß nach Berlin-Spandau. Dort leistete er vom 11. Oktober 1910 bis 23. September 1912 seine Militärausbildung und musste er kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs wieder erscheinen. Ab 6. August 1914 war er im Krieg und wurde am 16. Dezember 1918 wieder nach hause entlassen.

Sein überlieferter Militärpass beschreibt, was er miterlebte. Er war unter anderem im August 1914 bei der Einnahme von Namur (Belgien) dabei, Anfang September war er in der Schlacht an der Alle (auf dem Weg nach Russland), bei Gefechten bei Jendrzewo, Kielce, Opatow, im Oktober bei der Schlacht bei Iwangorod, im November /Dezember bei der Schlacht um Lodz, im Februar 1915 bei der Winterschlacht in Masuren und im September 1915 in der Schlacht bei Wilna.

Im Oktober 1915 ging es zurück nach Frankreich. Bis Juni 1916 war er in Stellungskämpfen in Flandern und im Artois und von Juli bis September 1916 bei der Schlacht an der Somme. Es folgten Stellungskämpfe dort bis März 1917, dann die Schlacht bei Arras, Stellungskämpfe im Artois und das Gefecht bei Lens. Im September/Oktober 1917 war er in der Schlacht in Flandern, es folgten die Kämpfe in der „Siegfriedstellung“ bis März 1918, dann die „Große Schlacht“ in Frankreich bis zum April 1918. Einer kurze Ruhepause hinter der Front im Mai 1918 folgten weitere Schlachten bei Noyon, Stellungskämpfe in Lothringen, bei Soissons und Reims, dann die Marneschlacht im August/September 1918 und weitere Kämpfe vor der Siegfriedstellung. Seine Soldatenzeit endete mit Rückzugskämpfen, der Räumung der besetzten Gebiete und der Rückkehr nach Spandau.

Er blieb „nur“ Gefreiter, also einfacher Soldat, hatte keine Verletzungen erlitten und bekam am 31. März 1917 das Eiserne Kreuz II. Klasse. Bilder zeigen ihn mit Schuhmacherwerkzeug auch im Krieg. Am 10. Dezember 1934 erhielt er das von Adolf Hitler eingeführte „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“.

Den hellsichtigen Feldpostbrief schrieb er am 3. Oktober 1918 während der Stellungskämpfe an der Vesle. Seine Briefe und Feldpostkarten bekamen sein Vater Schuhmachermeister Ernst Tappe, seine Schwester Paula und seine Verlobte Marie Müller am Altensennerweg: „Liebe Marie, Bin eben in der neuen Heimat angekommen und habe soeben ein Brieflein von Dir erhalten, wofür ich herzlich danke. Habe in den letzten tagen nicht schreiben können. Grund im Brief. Geht mir aber noch sehr gut. Morgen mehr. Mit Herzlichem Gruß August,“ lautet der Text auf einer Karte aus Cambrai vom 30. April 1918.

Sein Sohn hütet den Wehrpass, die Orden und die Briefe noch heute wie einen Schatz, die Erinnerung an den Vater ist sehr lebendig und geht ihm heute noch nahe, was auch mit der weiteren Familiengeschichte zusammenhängt. Denn von drei Söhnen, die August Tappe mit seiner Marie nach dem Ersten Weltkrieg bekam, lebt nur noch er.

Sohn Friedrich Tappe fiel im Zweiten Weltkrieg am 10. November 1943 in Russland, Sohn Wilhelm Tappe starb früh 1971 an Nachwirkungen seiner Verletzungen im Krieg. Auch August Tappe sollte noch mal in den zweiten Weltkrieg. Die Jahrgänge bis 1889 zurück wurden 1943 gemustert. Am 5. November, also wenige Tage, bevor sein Sohn in Russland das Leben verlor, wurde auch August Tappe als „kriegsverwendungsfähig“ für den „Landsturm 1 A“ eingestuft. In den aktiven Einsatz kam er nicht mehr. Auch sein jüngster Sohn, mit Geburtsjahr 1928 eigentlich noch ein „wehrfähiger“ Jahrgang, blieb verschont.

Eigentlich eine ganz normale Familie, die aber durch die Weltenbrände im 20. Jahrhundert tief erschüttert und geprägt wurde.

(Christoph Laue, Stadtarchiv Herford)

Tappe Feldpostbrief 1918 1

Feldpost
An Herrn Ernst Tappe
Schuhmachermeister
Schwarzenmoor Nr. 105
Post Herford Westfalen

[1]
Im Felde, den 3.10.18

Lieber Vater!

Endlich kann ich Euch auch wieder
ein Brieflein schreiben und ich
hoffe, das es Euch bei bestem
Wohlsein antrifft. Auch mir geht es
noch gut. Haben nun einige Tage
wieder gutes Wetter. Nun zur
Antwort auf Euren Brief. Wie ich schon
im Kartenbrief schrieb: Könt Ihr die
Sache mit dem Gelde ruhen lassen. Doch
wenn Ihr Friedrich noch nichts davon gesagt
habt, denn man weiß noch nicht, wie
noch alles kommen mag: Die Aussichten über den
Ausgang des Krieges sind doch schlecht
augenblicklich wohl schlechter, wie während
des ganzen Krieges. Nun mag das Ende
dieses Krieges doch nicht mehr alzufern sein

[2]
wo Bulgarien nun abgefallen ist, muß
die Türkei doch auch Schluß machen. Öster-
reich macht auch gleich mit und dann ist
Deutschland gezwungen, wenn es nicht
alle Männer opfern will, das es auch Frie-
den macht. Was uns da für Bedingun-
gen aufgelegt werden, das lässt sich noch
nicht ersehen. Aber jeden fals werden wir
mit dem Maß gemessen, wo unsere
Staatsmänner mit messen wollten.
Aber es ist alles gleich, wenn nur dies
Elend aufhört, dann wollen wir zu-
frieden sein. Das Junkertum wird dan
schon von selbst gestürzt werden.
Bei Euch geht die Arbeit ja immer
so mit der Zeit weiter, es freut
mich, das Ihr alles noch so schaffen könnt.
Na nun wird Paula ja auch wieder alle
Hände voll zu tun haben. Kommt Ihr
denn auch wohl aus mit den 63. ltrn. pro

[3]
Morgen? Na wir verzichten hier schon
freiwillig auf Kartoffeln, da wir
doch keine kriegen!!! Oder erst wenn
die verfroren sind. Ich verstehe nur
nicht das Ida jetzt sein Haus verkaufen
will. Wenn ich dort währe und hätte
mir diese Jahre schon etwas verdienen
können würde ich es tatsächlich kaufen
denn das ist nun noch das einzige, wo das
Geld sicher steht, was soll man sonst mit den
alten Papierlappen. Ich verstehe nicht
das Ihr Euch noch so in Sicherheit fühlt
in Deutschland. Nun hoffentlich erfüllen
sich die Geschicke schneller wie der Verkauf.
Allerdings nach dem Kriege kriegt sie ja
nicht den hohen Preis wie jetzt, aber Ihr
Geld steht so doch sicher. Sie muß es
aber ja wissen. Nun ist es schon
wieder Oktober, wie die Zeit doch

[4]
hingeht. Wir dachten jetzt mal ein
par Tage in Ruhe zu kommen, aber
da ist jetzt keine Zeit mehr zu. Die
Truppen werden alle gebraucht. Überall
greift der Feind an, es ist traurig
das die Zeitungen in Deutschland
so viele Blödsinn schreiben, hätten
sie sich beizeiten gemäßigt dann könn-
ten wir schon längst Frieden haben.
Aber das ist Schuld der Alldeutschen und
des Junkertums. Für uns wird es auch
immer schlechter als Handwerker in der
Companie, es kann bald die Zeit kommen
wo wir auch in der Front sind. Nun
will ich schließen. Mit den herzlichsten
Grüßen auch an Paula bleibe ich

Euer August

Schreibt bald wieder
Paket Nr. 2 erhalten, besten Dank

Tappe Feldpostbrief 1918 2

Feldpostbrief von August Tappe vom 3. Oktober 1918

Tappe August und Marie

Foto August und Marie Müller, später Tappe

Tappe August Tappe 1914 18 5

August Tappe als Schuster im Krieg, 18. Mai 1914

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 453

Pfarrer Karl Niemann (1895-1989) und der Erste Weltkrieg

niemann

Pfarrer Karl Niemann (1895-1989), Foto von ca. 1941

Heinrich Karl Ludwig Niemann wurde am 14. Oktober 1895 im Pfarrhaus von Veltheim (Kreis Minden) geboren. Er verstarb im 94. Lebensjahr am 5. April 1989. Sein Vater war der damalige Pfarrer von Veltheim und spätere Superintendent von Vlotho, Ernst Niemann (1860-1934), seine Mutter Martha (1868-1945) war Tochter des Superintendenten Steinmetz aus Göttingen. Karl Niemann hatte drei Brüder und eine Schwester. In seinem Elternhaus verlebte er nach eigenen Worten „eine sonnige Kindheit“. Im Anschluss an den Schulbesuch in Veltheim und Rinteln (Ostern 1914: Abitur) besuchte er die Universitäten in Göttingen, Tübingen und Münster. Der Entschluss zum Theologiestudium beruhte allein auf „meiner freien Willensentscheidung“, gab Karl Niemann 1921 an. Er entsprang weder häuslicher Beeinflussung, noch dem Umstand, dass es seit Generationen Theologen in der Familie gegeben hatte. Niemann engagierte sich als Chargierter im Münsterschen Wingolf, einer christlichen, nichtschlagenden Studentenverbindung. Der Münstersche Wingolf beteiligte sich fast geschlossen an den Freikorpskämpfen der frühen Weimarer Republik. So wurde die „Akademische Wehr Münster“ mit ihrem Truppenführer Martin Niemöller zur Sicherung der Verkehrswege in der westfälischen Provinzialhauptstadt gegen aufständische Ruhrarbeiter eingesetzt. Karl Niemann schloss sich ebenfalls einem Freikorps an, allerdings nicht dem Münsterschen Verband.

1921 hatte Niemann in Münster um Zulassung zum Ersten theologischen Examen „gemäß den für Kriegsteilnehmer geltenden Bestimmungen“ gebeten. Seine Examensarbeit reichte er verspätet ein bzw. es sorgte die nach Abgabe erfolgte Lektüre der Arbeit durch seinen Vater (der das Konsistorium bat, die Verzögerung „übersehen zu wollen. Es war der Wunsch des Vaters, die Arbeiten des Sohnes zu lesen, gewiß doch ein nicht unberechtigter Wunsch“) für eine 10-tägige Verspätung. Vor seiner Ordination hatte er, wie alle Hilfsprediger, eine Erklärung über seine Stellung zur heiligen Schrift und zum Bekenntnis schriftlich abzulegen. Darin verdeutlicht er gegen jede Tendenz möglicher verbalinspirierter Vorstellungen der Bibel, dass es für ihn nicht um eine „sklavisch-enge Bindung an jeden Buchstaben der heiligen Schrift“ gehe, da die einzelnen Schriften der Bibel in ihrer Entstehung „zeitgeschichtlichen Voraussetzungen unterliegen, insofern als sie aus bestimmten Anlässen, für bestimmte Menschen und Verhältnisse, in bestimmten schriftstellerischen Formen und von Menschen mit besonderer religiöser Eigenart geschrieben wurden“.

Im Sommer 1923 wurde der nunmehrige Hilfsprediger Karl Niemann in Krombach ordiniert und damit in den Stand versetzt, in eine Pfarrstelle gewählt zu werden. In der damaligen wirtschaftlich schwierigen Zeit zeigten die Krombacher Gemeindeglieder eine besondere „Opferbereitschaft“ zur finanziellen Erhaltung der Hilfspredigerstelle. Am Ende seiner Krombacher Hilfspredigerzeit heiratete Karl Niemann im Oktober 1924 die Kandidatin der Theologie und Philosophie, Elfriede Möhlenbeck (1896-1989), Tochter eines Seidenwarengroßhändlers aus Krefeld. Die Ehe blieb kinderlos. Seine Frau machte sich u.a. als Herausgeberin des in den Kirchengemeinden genutzten Kindergottesdienstblattes verdient.

Karl Niemann gehörte einer Alterskohorte an, die auch zweimal aktiven Kriegsdienst zu leisten hatte und verbrachte so insgesamt rund zehn Jahre seines Lebens im Krieg. Er nahm – zuletzt im Dienstgrad eines Leutnants – durchgängig, vom 3. August 1914 bis zum 1. Februar 1919, am Ersten Weltkrieg teil. Vom 2. Mai 1940 bis zum 8. September 1945 nahm er dann am Zweiten Weltkrieg teil. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Niemann noch sein erstes Semester in Göttingen absolvieren können (Sommersemester 1914). Vom Wintersemester 1914/15 bis zum Wintersemester 1918/19 war er dann offiziell – kriegsbedingt – „beurlaubt“. Bei Kriegsausbruch 1914 meldete er sich als Freiwilliger beim Ersatzbataillon eines Infanterieregiments in Minden. Nach kurzer Ausbildungszeit rückte er am 9. Oktober 1914 ins „Feld“. „Durch Gottes Güte“, so schrieb Niemann rückblickend, „durfte ich fast den ganzen Feldzug in vorderster Linie beim Infanterieregiment Nr. 15, vom 17. Okt. 1916 ab als Offizier mitmachen“. Bei Neuve Chapelle in Nordfrankreich wurde Niemann am 1. Mai 1915 verwundet und ins Lazarett Cambrai gebracht. Am 28. April 1918 zwang ihn eine zweite, ebenfalls in Nordfrankreich erlittene Verwundung, in die Heimat zurückzukehren. Er musste längere Zeit in den Lazaretten von Koblenz, Dresden und Oeynhausen verbringen. „Zu meiner Freude konnte ich nach meiner Wiederherstellung noch im Grenzschutz verwandt werden.“ Er stellte sich im Oktober 1918 dem Grenzschutz Weege-Kevelaer und später Burlo-Oeding bei Borken zur Verfügung. Die beiden erlittenen Verwundungen hinterließen keine ernsteren gesundheitlichen Folgen.

Während des Krieges hatte Karl Niemann erwogen, sein Theologiestudium aufzugeben und Soldat zu bleiben. Zum einen hatten ihn vermeintlich erfahrene und wohlmeinende ältere Offiziere dazu geraten, zum anderen waren ihm selbst „leise Zweifel“ gekommen, ob er den „gewaltigen Aufgaben“ des Pfarramtes nach dem Kriege gewachsen sein würde. Zudem glaubte er zeitweilig, als Offizier „dem Vaterlande durch Ausbildung von Männern, die an Geist und Körper gesund für die Aufgaben ihres bürgerlichen Berufes gestärkt wären, besser dienen zu können“. Schließlich ging es ihm wie so vielen Akademikern, die mehrere Jahre im Krieg gewesen waren: Sie verspürten eine gewisse Scheu vor der Wiederaufnahme des Studiums. „Mancherlei äußere Verhältnisse“, hierzu hat vermutlich das Ende des Kaiserreichs sowie mit Sicherheit die Abschaffung der Wehrpflicht 1919 gehört, „vor allem aber meine Verwundung und der unglückliche Ausgang des Krieges haben diese Gedanken nicht zur Tat werden lassen.“ Obwohl er viereinhalb Jahre lang „jedweder wissenschaftlicher Ausbildung“ entzogen war, mochte er die im Krieg gesammelten Erfahrungen „äußerer und vor allem innerer Art“ nicht missen. Am 1. Februar 1919 nahm er das Studium in Göttingen wieder auf. „Seitens der Dozentenschaft wurde alles getan, um uns Kriegsteilnehmern den Übergang zu friedlicher Arbeit zu erleichtern.“ Karl Niemann war besonders an der praktischen Theologie, an der Kirchengeschichte und am Alten Testament interessiert. Es fanden sog. „Zwischensemester“ im Frühjahr und Herbst statt, die insbesondere den Kriegsteilnehmern einen rascheren Studienabschluss ermöglichen sollten. Niemann bezweifelte jedoch, dass dieser „schnelle Wechsel der Semester für die theologische Entwicklung glücklich war“, zumal wirtschaftliche und politische Nöte in der Nachkriegszeit das Studium erschwerten. So kam es beispielsweise zu zwei kurzen Einberufungen Niemanns als „Zeitfreiwilliger“ in dieser Zeit.

(Dr. Jens Murken, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen)

Signatur: LkA EKvW Pers. Beam. 0108

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Hartmann (Rödinghausen), 8.5.1916

Geld geordnet. – Milder Regen. Erbsen & Bohnen gepflanzt. Hebr. Konferenz in Buer. Im strömenden Regen über Drückemühle nach Buer. Wohin man im Hannöverschen schaut, sieht man Gefangene als Arbeiter. So holte Einer Mehl von der Mühle; andere luden Kartoffeln auf. Diesen hielt ich für einen Knecht bis er dem Kamerade mit unverfälschtem frz. Akzent zurief: „Albert“! Der Regen kam so erwünscht wie kann nun alles wachsen. Der Rückweg von Markendorf bis zur Grenze war ein Gang durch eine Blütenwolke. In Buer erdröhnte 2mal ein Schuß. Höhe 303 vor Verdun und 1.680 Franzosen seien genommen. Hoffentlich läßt sie uns Gott behalten. Ich rief einem Gefangenen auf dem Rückwege zu: Encore un peu plus prix de la Paix. Hauteur 304 prise. Vive la paix. Ob es straffällig war? Ich versuche Rübsamen oder anderes Vogelfutter für Mätzchen zu bekommen. Nichts war zu haben. […].

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Ernst Hartmann, Kirchengemeinde Rödinghausen, S. 87/08.05.1916

Signatur: LkA EKvW Best. 4.31 Abt. B HS 2 (Quelle); LkA EKvW W 15193 (Transkription)

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Hartmann (Rödinghausen), 4.5.1916

Hannas Geburtstag. Wundervolles Maiwetter nach einem Nachtregen. – es heißt Frau Koring habe Roggen versteckt & sei angezeigt in Dünne hat ein Bauer 38 Ctr verheimlicht. H[än]dler Scholle soll Höchstpreis für Speck überschritten haben. Die Leute erkennen ihr Unrecht nicht. Pred[igt] gearb[eitet]. – Nachmitt[ags] kommen Annchen und [?] Frl. Meyer aus Oldf. z[um] Geburtstag. Abends Gang nach Ostkilver zu Meyer. Runkelsamen.

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Ernst Hartmann, Kirchengemeinde Rödinghausen, S. 86/04.05.1916

Signatur: LkA EKvW Best. 4.31 Abt. B HS 2 (Quelle); LkA EKvW W 15193 (Transkription)

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Hartmann (Rödinghausen), 19.1.1915

Randbemerkung: Die alte 88 jährige Witwe Kosiek sagte, man müsse doch an uns[ere] Feinde denken, was sie litten. „Es sind doch auch Menschen.“

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Ernst Hartmann, Kirchengemeinde Rödinghausen, S. 36/19.01.1915

Signatur: LkA EKvW Best. 4.31 Abt. B HS 2 (Quelle); LkA EKvW W 15193 (Transkription)

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Hartmann (Rödinghausen), 5.12.1914

Vortrag von Prof. Lüttgert-Halle in der Altstädter Kirche über den Krieg und die sittlich religiöse Erneuerung Deutschlands. Er betonte daß in Familie, Schule, Staat, Gesellschaft und Kirche Arbeit zu einer der deutschen Eigenart entsprechenden (Gestaltung) dieser Kriege des Volkslebens eintreten müsse welche zur wahren christlichen Freiheit nicht Ungebundenheit führt. Warum sind wir unbeliebt in der Welt, weil die straffe Heeres- und Beamtenzucht leicht zur Grobheit wird, wenn sie nicht in Schlaffheit umschlagen will. Umgestaltung unserer Stellung zur Sozialdemokratie, da diese in vaterländischer Betätigung nicht versagt hat.

Aus dem Kriegstagebuch von Pfarrer Ernst Hartmann, Kirchengemeinde Rödinghausen, S. 26/05.12.1914

Signatur: LkA EKvW Best. 4.31 Abt. B HS 2 (Quelle); LkA EKvW W 15193 (Transkription)

Kirche, Schule und Weltkrieg, 1914

Minden, 9. September 1914, Königliche Regierung, Abteilung für Kirche und Schulwesen Nr. 2287 II. N.M.:

Im Unterricht sind die Ereignisse unserer großen Zeit jedesmal mit den Schülern zu besprechen. Es ist ihnen von unserer gerechten Sache, von unserem festen Gottvertrauen, von deutscher treuer Pflichterfüllung und Opferwilligkeit, von deutschem Mut und deutscher Tapferkeit zu erzählen, damit sie in Herz und Gemüt zu gleichen Tugenden angeregt und begeistert werden. Vaterländische Gedichte und Lieder mögen den Unterricht wie die Spiele beleben und immer wieder vaterländische Begeisterung bei den jugendlichen Gemütern wecken und nähren.

Signatur: LkA EKvW 4.80 (Schule und Weltkrieg)

Der gefallene „hoffnungsvolle“ Sohn. Wie die Herforder „High Society“ um Julius Eick trauerte

HZSL 17 10 1914 Eick Tod A

Todesanzeige Julius Eick

„Auf dem Felde der Ehre blieb der Kaufmann Julius Eick, ein hoffnungsvoller Sohn des hiesigen Fabrikanten Jul. Eick. Möge er ruhen in Frieden!“ stand am 17. Oktober 1914 in der Zeitung. Julius Eick bekam nicht nur eine Todesanzeige der Familie, er wurde auch im redaktionellen Teil gewürdigt. War das eine Ungleichbehandlung noch im Tode? Als Fabrikantensohn war Julius Eick etwas Besonderes. Und er gehörte zu den Toten der ersten Kriegsmonate 1914. Der „gemeine“ Kriegstote erschien meist nur in den fast täglichen Gefallenen- und Vermißtenlisten.

Die Eltern Julius (1859 – 1936) und Meta Eick (1866 – 1945) hatten sicher andere Pläne mit ihrem erstgeborenen Sohn. Julius Eick sen. hatte in Herford nach dem Fabrikversand „von Tuchen, Buckskins und Tricotagen“, der „Herforder Möbel-Fabrik Julius Eick“ (am Bahnhof) und des „Weiß- und Wollwaren“-Geschäfts im Gehrenberg 9 (später Wöller Wolle) schließlich 1906 die „Westfälischen Süssrahm-Margarine-Werke“ an der Werrestraße 67 aufgebaut. Margarine war nach der Erfindung der Fetthärtung durch den Herforder Wilhelm Normann etwas Neues, das große Gewinne versprach. Trotzdem ging die Firma Mitte der 1920er Jahre ein, vielleicht auch weil sich in der Familie kein Nachfolger fand.

Eick Familie Julius Eick ca. 1914 kor 72dpi

Familie Eick, ca. 1914, vlnr: Hans* 1896, Julius jun. 1893, Edith * 1903, Wilhelm * 1899, Mutter Meta * 1866, Vater Julius * 1859, Irma * 1905

Die Familie Eick gehörte zur Haute-Volée der aufstrebenden Industriellen in Herford um die Jahrhundertwende. Man „kannte sich“ und traf sich in verschiedenen Vereinen und Gesellschaften. Das spiegelte sich auch wieder beim Tode des Juniors. Der Tod von Julius Karl Friedrich Eick, am 25. April 1893 geboren als zweites Kind nach Meta Emma Eick wurde erst 1920 standesamtlich eingetragen. Danach war er am 8. September 1914 durch ein Infanteriegeschoß in Schlacht bei Orly gefallen. Todesdatum und –ort wurden mitgeteilt vom Leiter der Kontrollstelle der Restformation des Garde-Schützenbataillons. Eick war dort Schütze der 3. Kompanie und starb mit „21 ½ Jahren“.

Das Garde-Schützen-Bataillon gehörte zu den ersten an die Westfront abrückenden Truppenteilen. Es nahm am Überfall auf Belgien und am Einmarsch in Nordfrankreich teil. Nach einem Gefecht bei Aire an der Aisne am 13. September 1914 waren von ursprünglich 1.250 Mann lediglich 213 nicht verwundet oder gefallen.

Die Familie hatte vor der Todesnachricht längere Zeit auf Nachricht gewartet, kurz vor Kriegsbeginn schrieb Julius noch aus Lichterfelde „in Eile möchte ich Euch mitteilen, daß sich jetzt wohl für uns die Sache entschieden hat… wir erwarten jeden Augenblick den entscheidenden Befehl…“, am 10. August traf aus Bonnal/Luxemburg eine Postkarte ein: „Aus dem schönen Luxemburg sendet beste Grüße Euer Julius. Geht mir sehr gut hoffe dasselbe von Euch, die Fp Adresse Schütze Eick III. Garde- Schützen“.

Weiteres lässt sich aus einem Brief der Mutter vom 30. September 1914 an den jüngeren Bruder Wilhelm, der sich in einem Internat bei Lüdenscheid befand, schließen: „Als Feldpostpäckchen von 250 gr. haben wir Julius schon über 30 [Fotos] gesandt; doch hatte er noch nichts am 2. Sept. bekommen; seine letzte Karte ist vom 4. Sept. seitdem wissen wir nichts mehr von ihm. Wie mir zu Mute ist, kann ich Dir nicht sagen, mein lieber, schöner, blühender Junge, wo ist er – bete, mein Wilhelm, daß der liebe Gott ihn uns erhalten möge.“

In den Herforder Zeitungen fand sich die Todesanzeige am 17. Oktober: „Statt besonderer Anzeige. Am 8. September starb in Frankreich den Tod fürs Vaterland unser innigstgeliebter, hoffnungsvoller Sohn … Garde-Schütze Julius Eick im Alter von 21 Jahren… In tiefer Trauer Familie Julius Eick. Wir bitten von Trauerbesuchen abzusehen.“

Kurz danach trafen die ersten Beileidsbezeugungen im Haus der Familie ein. Üblich war es, mit einer Visitenkarte oder mit bereits vor gedruckten Beileidskarten oder Briefchen (nur mit Namen oder einigen Trostworten) zu kondolieren, die Karten wurden durch Boten oder die Post übermittelt. Auch einige kurze Briefe auf schwarzgeränderten Karten oder ebensolchem Briefpapier trafen ein. Im Nachlass der Familie Eick finden sich zum Tode von Julius jun. alleine 41 dieser Karten und etwa 20 Beileidsbriefe. Die Herforder Absender gehörten fast allesamt zur „besseren“ Gesellschaft.

Beileidskarten 1914 2 72 dpi

Sammlung von Beileidskarten (Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 447)

Viele der Trostworte zeigten eine große persönliche Verbundenheit. „Leider ist nun doch diese schreckliche Ungewissheit zur traurigen Wahrheit geworden, dass Sie Ihren guten Sohn auf dem Felde der Ehre verloren haben. Es empfinden tief mit Ihnen die Umstehenden“ steht auf der Rückseite der Visitenkarte von „Herrn und Frau Hermann Elsbach“ Aus der Familie Elsbach kondolierten auch die Tochter Hermanns, Ellie Lipmann aus Hamburg und ihr Bruder Kurt. Weitere Absender von Visitenkarten waren der Kaufmann Bendix Weinberg, der „Hof-Photograph“ Alfred Nürnberger (Hansahaus, Bügelstr. 11), Witwe Margarete Ranzow, die am Alten Markt eine Manufakturwarenhandlung betrieb, Kaufmann Hermann Rehwoldt (Veilchenstr.), Justizrat Hermann Lümkemann und Frau und der „Tabakagent“ Heinrich Cordes und Frau (Bielefelder Str.). Architekt Wilhelm Köster (Kurfürstenstraße) schrieb „In der Zeitung lese ich, daß auch Ihr teurer Sohn im Feindesland gefallen ist“.

Eine inklusive Namen gedruckte Karte „Herzliche Teilnahme an dem Heldentode Ihres unvergesslichen Sohnes“ schickte Kaufmann Wilhelm Kuhlmann, Goebenstraße. Es kondolierten meist mit wenigen Worten und auch im Namen ihrer Ehefrauen unter anderen Gymnasiallehrer Professor Fulda, dessen Tochter Margarete Schulz, geb. Fulda, Kaufmann Richard Heidbreder (Waltgeristr.), der Reisende Franz Müller – dessen Frau notierte „In Kurzem denke ich, wird mein Besuch angenehm sein“ – , Handlungsreisender Otto Prollius, Fabrikant H. Knefelmeyer, Konditor Wilhelm Hansberg, Maschinenbauer August Zurheide (Diebrocker Str.), Eisenwarenhändler Heinrich Krömker (Komturstr.), Architekt Georg Fröhlich (Lübbertorwall), Schneidermeister Carl Stute (Credenstr.), Färbermeister Oscar Münzer (Steinstr.), Möbelfabrikant August Detering (Hermannstr.), Kistenmachermeister Wilhelm Hagemeier (Salzufler Str.), Geschäftsführer Otto Schmalhorst (Karlstr.), Papier- und Schreibwarenhändler Albert Brandes (Bäckerstr.), Fabrikant Albert Dörnte (Bettenfabrik Stiegelmeyer, Annastr.) und Juwelier Julius Weihe (Bäckerstr.).

Mit den Worten „Das erhebende Bewusstsein, dass Ihr Herr Sohn im Kampf für eine große Sache des Vaterlandes fiel, wird allein imstande sein, den tiefen Schmerz über den schweren Verlust allmählich zu lindern,“ versuchte Stadtlandmesser Theodor Höpfner zu trösten.

Besonders ausführlich schrieb der Konkurrent Fritz Schwake von der Margarinefabrik Jursch & Schwake an der Leopoldstr. 1: „Zu dem schweren Verlust, der Sie durch Hinscheiden Ihres lieben Sohns betroffen hat, spreche ich Ihnen und Ihrer werten Familie meine herzlichste Teilnahme aus. – Der Stolz Ihres Hauses hat nun auch für unser geliebtes Vaterland bluten müssen und dieses Bewusstsein wird Ihren Schmerz lindern. – Ich sehe Ihren lieben Sohn noch immer im Geiste vor mir auf seiner Durchfahrt zum Kriegsschauplatz! Mit welcher Begeisterung zog er aus, um unser Vaterland, um uns vor dem Feinde zu schützen! Ihnen noch schnell ein Händedruck u[nd] ein Lob für den braven Jungen aus dem Mundes seines Vorgesetzten und der Zug mit all’ den tapferen Kriegern rollte dahin. –
Wie groß war Ihre u[nd] Ihrer Gattins Freude noch mal den Lieben gesehen zu haben, wie freuten sich die Kinder, ihren Bruder noch einige Liebesgaben überbringen zu dürfen. – Den Tod dieses aufrichtigen, lieben Menschen bedaure ich sehr.“

Gerade diese Äußerung zeigt besonders die Kriegsbegeisterung und den tiefen Glauben an den Sieg in den ersten Kriegsmonaten. Von Tod und Verletzung, Hunger und Not blieb aber in den folgenden Kriegsjahren niemand verschont, aus welcher gesellschaftlichen Schicht er auch stammte.

(Christoph Laue, Stadtarchiv Herford)

Signatur: Kommunalarchiv Herford, Stadtarchiv Herford, Slg. E 447

Evangelische Kirche und Erster Weltkrieg

P1060959neu

Verbreitete Propaganda-Postkarte. Der zitierte Satz „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war!“ beschließt den Aufruf Kaiser Wilhelms II. an das deutsche Volk vom 6. August 1914.

Der Erste Weltkrieg wurde 1914 nicht begonnen, weil national euphorisierte, sich im Deutschen Reich als von anderen Hegemonialmächten eingekreist empfindende und daher seit längerem Aufmarschpläne schmiedende Volksmassen aus dieser Not und Notwendigkeit heraus zu den Waffen griffen und in die Nachbarländer einfielen. Der Krieg hatte vielschichtige Ursachen und Auslöser auf allen Seiten der Beteiligten. Er wurde nicht zuletzt begonnen, weil die deutsche „Reichsleitung“, also der Reichskanzler an der Spitze einer Beamtenregierung, und die Politik des Deutschen Reiches und seines Verbündeten Österreich-Ungarn diese militärische Eskalation bewusst in Kauf nahmen und auch herbeiführten. Die vermeintliche Kriegsbegeisterung, das sogenannte „Augusterlebnis“ und der viel beschworene „Geist von 1914“ waren Produkt und Intention von Propaganda und Mobilisierung. Politik, Militär, Wirtschaft und Kirche verfolgten damit eigene Interessen und machten Millionen von Menschen zu ihren Werkzeugen und Kriegern.

„Wohl keine gesellschaftliche Gruppe hat die Kriegsanstrengungen des deutschen Reiches von August 1914 bis zum bitteren Ende im November 1918 mit größerer Entschiedenheit unterstützt als die protestantischen Landeskirchen.“ Theologen deuteten den Krieg als eine Prüfung Gottes und als Teil des göttlichen Weltplans, der Deutschlands Aufstieg zu einer Weltmacht bringen werde. Leiden, Sterben und Trauer wurden von den Kirchen in der Anfangszeit des Krieges, der als „gerechter Krieg“ bezeichnet wurde, als heilsgeschichtlich gebotene christlich-germanisch-vaterländische Opferbereitschaft interpretiert. Das war in sämtlichen kriegführenden Staaten dabei durchaus vergleichbar, die sich als Verteidiger des jeweiligen Vaterlandes, der Kultur und des Christentums verstanden. Die Kirche erfüllte – jenseits ihrer eigenen volkskirchlichen Wiedergeburtshoffnungen – staatliche Integrations-, Legitimations-, Trostspende- und Motivationsfunktionen: „Uns Pfarrern zumal fällt in dieser außerordentlichen Zeit die bedeutsame Aufgabe zu, den Geist restloser Pflichterfüllung und unwandelbarer Treue bis in den Tod zu pflegen und zu stärken.“

Die evangelische Kirche und ihre traditionell nationalkonservativ eingestellten Kirchenbehörden agierten unter ihrem obersten Bischof Kaiser Wilhelm II. weitgehend als aktive Mitstreiter bei der totalen Mobilisierung und Ressourcenausschöpfung der deutschen Bevölkerung für die Fortführung des Krieges. Die westfälische Provinzialkirche war bis 1945 Teil der preußischen Landeskirche und teilte entsprechend ihre Geschichte.

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Postkartenserie „Gebet während der Schlacht“ (LkA EKvW 3.46 Nr. 80)

Westfalen war im Ersten Weltkrieg zu keiner Zeit militärisches Kampfgebiet. Schützengräben gab es in Westfalen lediglich als „Schauschützengräben“, die den Kriegsalltag jedoch nur unzureichend wiedergeben konnten. Das Grauen und die Realität der Front erreichte Westfalen an der „Heimatfront“ – in Gestalt von Siegesmeldungen und Verlustlisten in den Zeitungen, in Berichten über Offensiven und Ordensverleihungen, als Feldpost für die Familie und die Gemeinde, in Form von Geld- und Sachspendeaktionen sowie von Aufrufen zu Kriegsanleihen, in wöchentlichen Kriegsbetstunden und in Segnungsgottesdiensten für die einberufenen Soldaten, in Gestalt von Verwundeten, Invaliden und Kriegsgefangenen, die wie Lazarette und Lager im öffentlichen Raum zunehmend auftauchten und ihn mit prägten.

Kirchen, Gemeinden und Gemeindepfarrer wirkten in vielfältiger Weise an der Heimatfront, und sie wirkten für den Zusammenhalt zwischen Front und Heimat, für moralische Unterstützung, Trost und Stärkung sowie nicht zuletzt für den Erhalt der Wehrkraft auf beiden Seiten.

Aufgrund ihrer volkskirchlichen Struktur und ihrer nationalstaatlichen Verankerung ist evangelische Kirche zumindest bis zum Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs gesamtgesellschaftlich präsent und auch gefordert. Die kirchlichen Archive spiegeln diese Rolle der Kirche in vielfältigen Quellenbeständen, die in ihrer Breite lediglich durch nachfolgende Kriegsbeschädigungen Verlust erlitten haben.

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Karte „Mit Gott für Kaiser und Reich!“, 1914 (LkA EKvW 4.43 Nr. 699)

(Dr. Jens Murken, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen)